Unschuld von Dea Loher am Deutschen Theater Berlin

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Das war eine interessante Premiere am Deutschen Theater Berlin. Michael Thalheimer hatte "Unschuld" von Dea Loher inszeniert. Auf einem sich häufig drehenden Kegel (Bühne Olaf Altmann) erlebt man einen Kosmos unterschiedlicher, teilweise poetischer, teilweise skurriler Gestalten, die alle ihre persönliche Tragik haben. Da gibt es illegale Einwanderer, die damit fertig werden müssen, einer Ertrinkenden nicht geholfen zu haben; eine ältere Frau, die für Dinge um Vergebung bittet, die sie gar nicht getan hat; ein Paar bei dem die Frau unbedingt ein Kind möchte, der Mann in seinem neuen Job als Mitarbeiter eines Bestatters mehr als aufgeht; die Mutter der jungen
Frau, die mit ihrer Zuckerkrankheit und den daraus folgenden Amputationen hausieren geht; eine blinde junge Frau, die als Nackttänzerin arbeitet, eine vom Leben ernüchterte Philosophin und noch einige mehr. Zwischen den verschiedenen Geschichten gibt es immer wieder Berührungspunkte. Die Texte sind sprachlich beeindruckend und Thalheimer widmet ihnen in seiner Inszenierung zu Recht die größte Aufmerksamkeit.

Doch befriedigt hat mich der Abend dann doch nicht so ganz. Da wurden permanent Dinge erzählt, die ich gern gespielt gesehen hätte. Es wirkte auf mich, als hätte eine hochbegabte Autorin ihr Expos%C3%A9 abgegeben, aus dem sie nun ein richtiges Stück machen will.

Die Schauspieler (Andreas Döhler, Peter Moltzen, Katrin Wichmann, Gabriele Heinz, Michael Gerber, Kathleen Morgeneyer, Barbara Schnitzler, Olivia Gräser, Sven Lehmann, Ingo Hülsman und Jürgen Huth) nutzten die Miniaturen zur Darstellung kräftiger Figuren aus, gerade deshalb hätte ich mir mehr Spielmöglichkeiten miteinander gewünscht. Es war ein tolles Ensemble. Das hätte man nicht noch dadurch beweisen müssen, dass es - wie man es leider andauernd erlebt - seine Perfektion im chorischen Sprechen demonstriert. Besonders hervorheben möchte ich, ohne die Leistungen der anderen schmälern zu wollen, Barbara Schnitzler, die mit ihrer Frau Zucker die Bühne furios beherrschte und Ingo Hülsmann, der die Philosophin Ella ohne Tuntigkeit klug und mit viel Geschmack gespielt hat. Einen Grund dafür, die Rolle mit einem Mann zu besetzen, habe ich allerdings nicht erkennen können. Auf den Schrägen des Kegels entstanden immer wieder schöne Bilder, aber insgesamt blieb es für mich über weite Strecken ein gut gemachtes Hörspiel in Kostüm und Maske.
Rainer Gerlach für radio-mensch

Venedig im Schnee im Schlossparktheater Berlin

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Ein freches Stück Boulevardtheater erlebte im Berliner Schlossparktheater seine Premiere: "Venedig im Schnee" des Franzosen Gilles Dyrek, Deutsch von Annette & Paul Bäcker. Patricia und Christophe haben sich gestritten, sind aber bei einem Studienfreund von Christophe eingeladen. Patricia, noch voller Groll und zusätzlich genervt von dem turtelnden Pärchen Nathalie und Jean-Luc, sagt keinen Ton. Daraufhin hält man sie für eine Ausländerin, die kein Französisch spricht. Patricia nimmt den Ball auf und gibt sich mit einer ausgedachten Sprache als Flüchtling aus Chouvenien, einem vom Krieg gebeutelten Land Ex-Jugoslawiens aus, das sie natürlich frei erfunden hat. Daraufhin wird sie in peinlicher Weise
von Nathalie und Jean-Luc mit fragwürdigen Spenden überhäuft. Die Entwicklung der Ereignisse stellt auch die Beziehungen der beiden Paare auf die Probe.

Das Stück hat spritzige Dialoge, eine Menge Pointen, überraschende Wendungen und geht in der Inszenierung von Roland Lang mit Tempo über die Bühne. Mariella Ahrens und Gert Lukas Storzer als Nathalie und Jean-Luc spielen das Gastgeberpaar wirkungsvoll mit Spaß an ihren Figuren. Sie himmeln sich zunächst in penetranter Naivität an, geraten aber auch zunehmend aneinander. Leider kommen sie etwas zu sehr in die Karikatur-Richtung.

Da nutzen Gesine Cukrowski als Patricia und Thomas Reisinger als Christophe den Konflikt zwischen ihnen zu mehr Zwischentönen. Dabei bleibt das Komödiantische durchaus nicht auf der Strecke. Vor allem Gesine Cukrowski bestimmt mit kapriziöser Biestigkeit souverän den Abend. Und Thomas Reisinger schafft einen wundervollen Balanceakt zwischen Konsequenz und Nachgeben. Hätte man das andere Pärchen ein wenig differenzierter und "normaler" gezeigt, sie etwas ernster genommen, wäre es sicher eine bösere Komödie geworden.

Das Bühnenbild mit Loft-Charakter von Karin Betzler habe ich nicht so ganz begriffen. Gut, der überdimensionale Bildschirm mit Delfinen mag ja noch als Raumschmuck der beiden %C3%A0 la "Kaminfeuer-Video" durchgehen, aber warum nach der Pause der Tisch im eigentlich unveränderten Raum anders steht und vor allem, warum eine Kamera jetzt Live-Bilder des Geschehens auf den Bildschirm wirft, hat sich mir nicht erschlossen.

Das Posieren habe ich ja noch als "Video für Chouvenien" interpretieren können, aber dann wirken diese Bilder nur noch zufällig, nicht als ein erzählender anderer Blickwinkel. Trotzdem hat man sich glänzend unterhalten und es gab zu Recht kräftigen herzlichen Applaus.
Rainer Gerlach für radio-mensch

Von hinten durch die Brust ins Auge von Francis Velber im Renaissance Theater Berlin

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Mit der letzten Premiere dieser Saison landete das Renaissance Theater Berlin schon wieder einen Volltreffer. Es ist ja fast beängstigend, mit welcher Zielsicherheit Stücke und Teams da ausgesucht werden. Eine ganze Spielzeit lang wurde ich kein einziges Mal enttäuscht. Hut ab. Die Komödie "Von hinten durch die Brust ins Auge" des Franzosen Francis Veber, in Theater und Film schon lange unter dem Titel "Dinner für Spinner" erfolgreich, wurde ein bisschen auf Berliner Verhältnisse bearbeitet und lässt das Publikum aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommen. Brochalke, ein arroganter Verleger, macht sich jeden Dienstag mit seinen Freunden den perfiden Spaß, einen
- ihrer Meinung nach - Volltrottel zum Abendessen einzuladen und entsprechend vorzuführen. Dieses Mal glaubt er, ein besonders wirkungsvolles Exemplar gefunden zu haben, den Finanzbeamten Ritzel, der mit Leidenschaft Bauwerke aus Streichhölzern nachbaut. Alles könnte so schön sein, käme ihm nicht ein Hexenschuss in die Quere. Der ahnungslose Ritzel schafft es, eine Katastrophe nach der anderen zu organisieren und das Leben Brochalkes zu ruinieren.

Die turbulente Geschichte uferte in der Inszenierung von Guntbert Warns nie zur Klamotte aus, obwohl alle Schauspieler komödiantisch in die vollen gingen. Die geistreichen Dialoge und erzählenden Pausen hatten einen phantastischen Rhythmus und die Pointen saßen.

Robert Gallinowski als Brochalke pendelte sehr komisch zwischen arrogantem Macho und verzweifelter Hilflosigkeit. Ich habe zwar nicht ganz verstanden, warum nach der Pause der Hexenschuss bei ihm oft etwas in Vergessenheit geriet, aber das tat der Sache keinen Abbruch.

Boris Aljinovic als Ritzel verbreitete eine schier nervtötende Naivität, die ungemein rührend war. Und er wirkte nie albern. Der Moment, nachdem er die Wahrheit über seine Einladung erfahren hatte, ging unter die Haut.

Anika Mauer kostete die Gegensätzlichkeit ihre Doppelrolle als elegante Gattin Brochalkes und esoterische Geliebte weidlich aus, aber auch hier hatten die Figuren immer ein bisschen Tiefe.

Nachdem ich das Gefühl hatte, dass Thomas Schendel und seinem Regisseur zum Orthopädie-Professor nicht viel eingefallen ist, liefert er in seiner zweiten Rolle als Steuerfahnder ein hinreißendes Bravourstück ab. Kai Maertens als Freund Brochalkes hatte sicher nicht die dankbarste Rolle, aber war mit trockenem Humor souverän präsent.

Das Bühnenbild von Momme Röhrbein war nicht nur schön anzusehen, sondern gab auch die Möglichkeit für abwechslungsreiche Arrangements; die Kostüme von Angelika Rieck charakterisierten geschickt die Figuren; und das Programmheft war wieder eine glänzend gemachte Ergänzung. Ich bin schon sehr gespannt auf die neue Spielzeit.
Rainer Gerlach für radio-mensch

Winterreise und Capitalista, Baby am Deutschen Theater Berlin

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Das Deutsche Theater Berlin startete mit zwei Premieren in die Spielzeit 2011/2012, anderthalb davon habe ich gesehen. Da gab es zunächst Elfriede Jelineks Winterreise, bei der Kritikerumfrage von "Theater heute" zum deutschsprachigen Stück des Jahres gewählt. Ich frage mich nur, was an diesem Text ein Theaterstück war. Es ist ja legitim, wenn eine Schriftstellerin über ihr Leben und das Leben an sich reflektiert. Aber deshalb ist dieser sich gelegentlich philosophisch gebende, dann wieder einfach nur narzistische Seelenstriptease doch noch lange kein Bühnenstück. Auch nicht, wenn man es ins Scheinwerferlicht zerrt. Nächstens wird uns vielleicht noch ein literarisch begabter Koch seine
Seelenqual beim Aufschlagen eines Hühnereis zwecks Spiegeleier Bratens, weil er immer daran denken muss, dass das eigentlich ein Küken ist, als Theatertext verkaufen. Und wenn Andreas Kriegenburg sich der Sache annimmt wie bei der "Winterreise", dann geschieht sogar szenisch etwas und man kann den Gedanken mühelos folgen. Wenn man Lust hat. Mich haben die aneinandergereihten Monologe der 5 Wanderinnen (Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesic und Susanne Wolf) auf der Blumenwiese von Nikolaus Frinke sehr schnell gelangweilt. Das lag nicht an den Schauspielerinnen, die waren exzellent.

Sie haben die Texte spannend, sinnfällig und mit Humor verkauft unter dem Motto: "Mal sehen, was man da noch an Vergnügen rausholen kann." Leider mussten die Darstellerinnen, die gerade nicht dran waren, parallel irgendwelche Handlungen ausführen. Ach ja, im Theater soll ja auch was geschehen. Vielleicht bekommt man ja den Zuschauer sogar dazu, nach der versteckten Bedeutung zu rätseln. Und es soll keiner sagen, dass Werk sei nicht aktuell. Natascha Kampusch und ihr Medienecho werden sogar ein bisschen szenisch reflektiert. Ich gestehe, dass ich mir den zweiten Teil geschenkt habe, vielleicht war er ja besser. Aber die erste Hälfte hatte mich einfach zu müde gemacht.

Die zweite Premiere war in den Kammerspielen "Capitalista, Baby" nach "The Fountinhead" von Ayn Rand in einer Fassung von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, die beide auch Regie führten. Und hier hat mich der ebenfalls nicht gerade kurze Abend bestens unterhalten, auch im Sinne von angeregt. Es war politisches Theater (fast) ohne Zeigefinger mit komödiantischem Vergnügen. Die Amerikanerin Ayn Rand, die 1905-1982 gelebt hat, ist in ihrem Land eine Bestsellerautoren und gilt als Verfechterin des reinen Kapitalismus. Das ist wahrscheinlich der Ausgangspunkt für den etwas irreführenden Titel. Geht es doch in ihrem Roman "The Fountainhead" um die bedingungslose Selbstverwirklichung des Individuums im Gegensatz zu denen, die sich vom System korrumpieren lassen, aber auch denen, die den Sozialstaat propagieren. Howard Roark, ein eigenwilliger Architekt arbeitet lieber im Steinbruch, als seine Ideale zu verraten. Ganz im Gegensatz zu seinem Kommilitonen Peter Keating, einer mittelmäßigen Begabung, der bei Howard schmarotzt und schnell Karriere macht. Als er sich nicht an die Verabredung hält, die Pläne Howards für eine Anlage des sozialen Wohnungsbaus ohne jegliche Änderung zu verwirklichen, sprengt dieser das Gebäude in die Luft.

Das klingt alles sehr trocken, wird aber in eine teilweise triviale Story Marke Hollywood verpackt (der Stoff wurde tatsächlich auch verfilmt), die hier jedoch nicht melodramatisch, sondern mit Ironie erzählt wird. Manchmal erinnern die Szenen an frühen Kintopp. Das gibt den Schauspielern Gelegenheit, ihre Figuren komödiantisch auszukosten und vorzuführen. Und diese Gelegenheit nutzen sie zum Vergnügen des Publikums weidlich aus. Allen voran Natali Seelig als mal frigide, mal leidenschaftliche Dominique. Felix Goeser spielt als Peter die Durchschnittlichkeit seiner Figur mit einer gewissen Fahrigkeit gestenreich und sehr komisch aus. Matthias Neukirch als Ellsworth ist in seiner Demagogie ohne Aufwand ein brillanter Rhetoriker, der die Leute verführen kann. Michael Schweighöfer verschafft mit trockenem Humor dem sich wandelnden Meinungsmacher viele Sympathien. Daniel Hoevels als Howard wirkt eher bescheiden in seiner Unbedingtheit. Da dürfte Cary Grant, der die Rolle im Film gespielt hat, viel strahlender gewesen sein. Aber es ist ein Reiz dieser Inszenierung, dass da eben kein solcher Held unbeirrt seinen Weg geht, sondern einfach nur jemand, der sich treu bleiben will. Damit weckt er Sympathien und nimmt das Publikum mit. Das gipfelt in einer engagierten Rede vor Gericht, in der er bedingungsloses Schöpfertum gegen Mittelmäßigkeit und Altruismus stellt. Seine Thesen haben einerseits Überzeugungskraft, sind andererseits fragwürdig. Aber die Inszenierung stellt es dem Zuschauer frei, seine Wertung zu treffen. Danke an die Macher, dass sie einem mündigen Publikum keine Wertungen oktroyieren. Die gelegentlichen Spielereien mit der Stimmverzerrung haben mich allerdings eher gestört als beeindruckt. Das eingeschobene Brecht-Gedicht übrigens auch. Ach ja - und dann ist da noch Jürgen Kuttner in verschiedenen Rollen. Ich habe ja tiefes Verständnis dafür, dass ein Regisseur mitspielen möchte. Das war auch alles sehr klar und ordentlich, aber konnte mit dem darstellerischen Niveau des Ensembles doch nicht ganz mithalten. Jo Schramm baut ein riesiges Dollarzeichen auf die Bühne, in dem sich geschickt verschiedene Schauplätze verbergen. Das ist nicht nur verspielt und lustig, es bietet auch die Möglichkeit für spannende Arrangements. Die Ausstattung hat einen Sonderapplaus verdient. Ich denke, Stück und Inszenierung werden im guten Sinne polarisieren, seinen Spaß dürfte aber jeder haben.
Rainer Gerlach für radio-mensch

Spacekraft in der Residenz Leipzig

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Wer Lichtinstallationen mag, war genau richtig in der Residenz der Baumwollspinnerei, einer Außenstelle des Schauspielhauses Leipzig. Martin Böttger ließ schwarze Tintenkleckse regnen, ein großer schwarzer Fächer bewegte sich schnell auf und zu, wildes Durcheinander in schwarz-weiß auf dem Fußboden, große, große, weiße, futuristisch anmutende Gebilde bewegten sich von Zeit zu Zeit durch den Raum und veränderten ihr Aussehen durch Lichtspiele. Unterstützt wurde alles durch sphärische Klänge des englischen Musikers und Soundkomponisten Chris Clark.

Immer im Zentrum der Aufmerksamkeit die Choreografin und Tänzerin Melanie Lane und der Tänzer Florian Bücking, beide in schwarzen Glanztrikots, unermüdlich im Gleichklang auf der Suche nach einem
passenden Ort, am stärksten in Aktionen gegeneinander. Der Ausflug in die Zukunft bleibt am Ende offen, eine kleine Flamme flackert am vorderen Rand der Tanzfläche, das Flackern geht über auf das dahinterstehende futuristische Gebilde, bizarre Lichtspiele lassen den Abend ausklingen. Man darf sich doch fragen, warum der Titel der Performance Spacekraft und nicht Spaceimpressionen heißt.
Angela Trautmann für radio-mensch
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