"Rocco und seine Brüder", dieser bedeutende Film Viscontis, der nicht zuletzt Alain Delon den Durchbruch als Schauspieler brachte, hat nun seinen Weg auf die Bühne des Berliner Maxim-Gorki-Theaters gefunden. Es ist nicht der erste Versuch einer theatralischen Umsetzung. Bereits 2008 hat ein Amsterdamer Ensemble im Rahmen der Ruhrtriennale eine Stückfassung gezeigt. Ich habe sie nicht gesehen, aber den Beschreibungen nach hat sie anstrengende 3 Stunden ohne Pause gedauert. Das kann man der Inszenierung von Antu Romero Nunes schon mal nicht vorwerfen. Die pausenlosen 2 Stunden sind durchaus unterhaltsam. Da wird die große Kiste der Theatermittel aufgemacht: die Truppe darf zunächst
als Pantomimenensemble einen ausgiebigen Stummfilm-Auftakt spielen, Requisiten werden nicht als Zierrat, sondern als eigenständige Erzählmittel genutzt, eine nicht sichtbare Brosche wird durch schauspielerische Magie zu einer Kostbarkeit. Die Liste glücklicher Einfälle ließe sich noch weit fortsetzen. Und man hat den Eindruck, dass hier ein Ensemble lustvoll seinem Regisseur in den theatralischen Buddelkasten gefolgt ist. Dafür gab es am Schluss verdienten starken Applaus. Also ein Theatervergnügen ohne "wenn und aber"? Das war es für mich denn doch nicht hundertprozentig.
Der Regisseur scheint eine panische Angst davor zu haben, dass ich auch nur eine Sekunde vergessen könnte, dass ich im Theater sitze. Was bei dem bis auf die raffiniert eingesetzten Züge mit Neonröhren und Lautsprecherboxen plus gelegentlich rotierender Drehbühne leeren Raum (Bühnenbild Johannes Hofmann) gar nicht möglich ist. Ein spielerischer Bruch jagt den nächsten. Das vermeidet zwar falsches Pathos, führt aber hier und da für mich zu einer Oberflächlichkeit, die einer Vertiefung der Konflikte nicht unbedingt zuträglich ist. Aber gut, das war anscheinend auch nicht beabsichtigt - die Dinge werden vorgeführt, behauptet, berichtet. Gerade deshalb habe ich es genossen, wenn - besonders an Punkten der Hilflosigkeit der Figuren - die
Schauspieler ehrliche, unkitschige Emotionen zeigen durften. Vor allen Dingen Michael Klammer als Simone, Robert Kuchenbuch als Rocco und Anne Müller als Nadja. Und sie beherrschten das ebenso gut wie das "Aussteigen" und das Jonglieren mit Situationen. Albrecht Abraham Schuch und
Matti Krause kamen da leider vergleichsweise etwas zu kurz, was aber deutlich nicht an ihnen lag.
Andreas Leupold konnte dagegen in drei Rollen brillieren, das tat er nicht nur mit sichtlichem Vergnügen, sondern auch mit viel Geschmack, es wurde nie billige Klamotte. Genannt sei noch der Darsteller des Luca (ich habe mich leider nicht informiert, ob Alp Erdener Ergovan oder Berk Kavasoglu die Premierenbesetzung war). In den letzten Minuten vor Beginn darf er demonstrativ das Publikum betrachten (Merke: Wir machen hier Theater - und ihr seid das Publikum), am Schluss ein Lied singen zu dem der Pasolini-Text, der sich auch im Programmheft befindet, projiziert wird. Dem unterzieht er sich mit heiligem Ernst und schöner Stimme. Vielleicht habe ich da was falsch verstanden, aber es war für mich im Verhältnis zu den vorherigen zwei Stunden zu viel Pathos.
Unbedingt erwähnt werden müssen noch die miterzählende Musik von Florian Lösche und die Kostüme von Judith Hepting, die genau weiß, wann und wo sie aussagekräftig Farbflecke in die schwarz-weiße Grundverabredung einbringt. Dass bei einer neuen Bühnenfassung die Dramaturgie (Carmen Wolfram) eine wesentliche Rolle spielt, liegt auf der Hand. Inwieweit sie bei dieser überbordenden regielichen Fabulierkunst zum Zuge kam, kann ich allerdings nicht einschätzen. Wahrscheinlich ist es auch kein Zufall, dass es keine Autorenangabe außer dem Filmschöpfer Visconti gibt. "Sehr frei nach" wäre vielleicht eine ehrliche Ergänzung gewesen. Es heißt ja "Der Zweck heiligt die Mittel." Die Mittel habe ich hervorragend gesehen. Ich hoffe, dass sich mir beim nächsten Mal auch noch der Zweck - über das "Vergnügen am Theatermachen" hinaus - erschließt. Dann wäre dieses Vergnügen ungetrübt. Rainer Gerlach für radio-mensch.