Menschenskind, ich habe viel gelernt an diesem Abend. Zunächst einmal, dass ich ziemlich leide, wenn ich - vielleicht als einziger im gut besuchten Haus - am Schluss nur halbherzig applaudieren kann - und nicht verstehe, worauf sich die vereinzelten "Bravos" beziehen. Zum zweiten habe ich durch das Stück gelernt, dass meine Oma recht hatte mit dem Satz, "Geld verdirbt den Charakter", und ich weiß nun auch, dass es die Menschen zwingt, sich zu verbiegen. Kann man von einem Theaterabend mehr verlangen? Wäre ich Reich-Ranicki, würde ich vielleicht sagen, ich fand den Abend grässlich in dieser binsenweisheitlichen Oberflächlichkeit. Aber ich beschränke
mich darauf zu konstatieren, dass ich mir einfach nur veralbert vorkam.
Ich kann mir natürlich auch nicht vorstellen, wie man dieses moralisierende Tolstoi-Stück für uns spannend erzählen sollte, aber ich kann mir genauso wenig erklären, warum man es sich dann aussucht. Das Bühnengeschehen hat mir jedenfalls keinen Grund dafür geliefert. Was wird erzählt? Ein reicher, herrschsüchtiger Bauer, der nicht mehr ganz auf der Höhe ist, wird von seiner Frau mit dem Knecht betrogen. Die Mutter des Knechts wittert für ihren Sohn eine gute Partie und verschafft der Frau das nötige Gift. Nach dem Tod des Mannes heiratet der Knecht die reiche Witwe, führt sich nun genauso herrisch auf, verprasst das Geld und schwängert die Tochter. Auf Drängen der beiden im Töten geübten Frauen bringt er das Kind um. Die Tochter wird verheiratet - und er bekommt einen "Moralischen". Na bitte. Dazwischen winden sich alle in ihren Seelenqualen, die mit starken Emotionen - in erster Linie mittels Brüllen - an einander vorbei monologisierend abgespult werden, mal mit Maske, mal ohne. Nur gelegentlich, wenn es die Bildkomposition, auf die viel Wert gelegt wird, erfordert, dürfen sie sich sogar ansehen. All das geschieht in einem hoch über der Bühne angebrachten kleinen Kasten, in dem es das Bett des Kranken und ein Kreuz gibt. (Bühne: Olaf Altmann). Hinein gelangt man über zwei Gänge, die nur kriechend zu bewältigen sind.
Merke: Die Gier nach schnödem Mammon zwingt die Menschen nieder. Ich war froh zu sehen, dass man wenigstens Knieschützer ausgegeben hatte. Vermeintliche Kernaussagen werden - vermutlich der Eindringlichkeit halber - bis zum Erbrechen wiederholt. Apropos wiederholt. Das hat man von Michael Thalheimer alles schon gesehen - und es wird durch die Permanenz nicht besser. Ich werde langsam den Verdacht nicht los, dass er wirkliche Beziehungen zwischen Menschen nicht inszeniert, weil er dann bei sich "ans Eingemachte" gehen müsste. Aber es ist so traurig zu sehen, dass tolle Schauspieler, denen man wünschen würde, dass sie das auch mal im Zusammenspiel zeigen könnten, benutzt werden, damit ein Regisseur sich seinem Markenzeichen entsprechend in den Vordergrund spielen kann. Wie gesagt, es gab kräftigen Applaus, aber ich hatte das Gefühl, dass sich gleich irgendwo ein unschuldiges Kind erhebt und ausruft, dass der Kaiser ja gar keine Kleider anhat. "Gar keine" wäre vielleicht übertrieben, aber ich finde, sie sind sehr durchsichtig.
Rainer Gerlach für radio-mensch