Tanz in den Häusern der Stadt in Leipzig

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Das Leipziger Ballett hat sich für den siebten Teil der Reihe "Tanz in den Häusern der Stadt", passend zur diesjährigen Buchmesse, einen wenig bekannten Ort ausgesucht: die Räume des Musikarchivs der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig. Dieser Neubau existiert seit vier Jahren und dokumentiert die komplette deutsche Musik- und Notenproduktion. Die Tänzerinnen und Tänzer eroberten unkompliziert und lebhaft alle Räume, einschließlich Fahrstuhl, wobei sich der Besucher des Projekts zwanglos überall hinbewegen konnte und an keine Reihenfolge gebunden war. Gelagerte Materialien wie alte Bücher, deren Hülle oder alte Vinyl-LPs wurden mit Hilfe von Bewegungen aktiv genutzt, alle Sitzgelegenheiten umfangreich und variabel angenommen.

Die Klangwelt
kam von einem alten Grammophon mit historischen Aufnahmen, von alten Platten, Kassetten, aus einem modernen Hörstudio oder von einem alten Konzertflügel, der dank Papierrollen ohne Pianisten spielen kann. Warum hören wir Musik? Wäre eine Welt ohne Geräusche und Musik denkbar und auszuhalten? Darüber kann am Ende des Abends jeder selbst nachdenken und für einen kurzen Moment vielleicht auch einen Raum der Stille suchen.
Angela Trautmann für radio-mensch

euro-scene: "Ch(ose)" ("Dinge wagen"), "Circle moods" ("Kreisstimmungen") - zwei Tanzsoli aus Frankreich in Leipzig

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Das LOFFT bietet optimale Rahmenbedingungen für zwei intime Stücke für die Tänzerin Sandrine Burin aus Paris und den Tänzer Orin Camus aus Bordeaux. "Ch(ose)" ("Dinge wagen") Ein gläsernes Rohr, ähnlich einer großen Vogelvoliere, hängt in der Mitte des dunklen Raumes in einem Lichtkreis. Sandrine Buring betritt die Bühne, sucht Kontakt zum Licht, bringt das Rohr in Bewegung und kriecht mit nacktem Oberkörper hinein, atmet lange und intensiv und versucht an ihrem Zustand des Gefangenseins etwas zu verändern, versucht zu fühlen, zu sprechen, zu sehen, den ganzen Körper zu bewegen. Durch die unregelmäßige Glasstärke sieht der Zuschauer teilweise verzerrte Bilder ihres
Körpers. Am Ende verharrt sie in einer hilflosen Position - gefangen in und mit sich selbst. Es gibt keine Musik bei der Performance, alle Konzentration ist beim Geschehen auf der Bühne - frei von jeglicher Eitelkeit setzen die Bewegungen der Hände, der Arme, des Kopfes kleine Zeichen und rufen nach Zuwendung.

Die Performance geht auf Begegnungen von Sandrine Buring mit mehrfach behinderten Kindern im Krankenhaus von La Roche-Guyon zurück. Es ist ihr gelungen, einen beinah hilflosen Körper und eine in sich geschlossene Seele zu zeigen - wie man damit umgeht und was daraus entstehen kann bleibt offen und gibt ein wenig Hoffnung, dass jeder aus der Enge seiner gläsernen Hülle heraustreten kann. "Circle moods" ("Kreisstimmungen") Gefangen im Kreis - damit setzt sich der Tänzer und Choreograph Orin Camus auseinander. Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Häftlingen des Pariser Gefängnis Prison dela Sante%E2%80%99 fließen dabei in seine Arbeit ein.

Im Zentrum der Bühne auf blauem Boden ein heller Lichtkreis, Orin wird neugierig, stürzt sich akrobatisch in den Zirkel, testet aus, wie es sich darin leben und aushalten lässt. Im Verlauf des Tanzstückes verändert sich der Kreis, wird zum Viereck mit einem Weg nach draußen, der versperrt bleibt, eine kleine Lücke zeigt sich in der Zirkellinie, was ihm kurz ermöglicht, sitzend in einem roten Lichtkegel eine neue Welt wahrzunehmen, aber das Innere des Kreises zieht ihn immer wieder zu sich. In Gedanken entfernt er die äußere Mauer, verspielt fallen feine Lichtstrahlen wie aus einem defekten Duschkopf bizarr auf seinen Körper, denen er sich völlig in sich gekehrt widmet, um sich noch ein bisschen Individualität zu bewahren. Die Inhaftierten eines Gefängnisses dürfen nicht mal so eben rausgehen und in gewisser Weise ist jeder "draußen" auch gefangen: in sich selbst, mit seinem Körper, seinen Gedanken, seinen Träumen, seinen Gefühlen und es ist schwer, fast unmöglich, auszubrechen, aber einen Versuch wert.
Angela Trautmann für radio-mensch

PICTURESQUE - eine choreografische Installation von Mario Schröder im UT Connewitz Leipzig

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Das UT Connewitz feiert am zweiten Weihnachtsfeiertag seinen 100. Geburtstag und ist das älteste Lichtspielhaus der Stadt Leipzig - ein würdiger Anlass, die Reihe des Leipziger Balletts "Tanz in den Häusern der Stadt" im Union-Theater stattfinden zu lassen. Ein Film findet Ausdruck in der Produktion von bewegten Bildern, der Tanz zeigt auf Musik ausgeführte Körperbewegungen und beide Kunstformen sind sich in PICTURESQUE begegnet. Die Zuschauer saßen nicht wie üblich auf hintereinander aufgestellten Stuhlreihen, sondern verteilten sich sitzend und zum größten Teil stehend im Raum. Die Bewegungsfläche für die Akteure war auf der Bühne vor der Kinoleinwand und auf einem breiten
schwarzen Streifen im Zuschauerraum, die Filme wurden direkt auf die Leinwand und auf die Seitenwand projiziert. Der Film zeigt Straße und Eingang des UT Connewitz - zu betont rhythmischer Musik (im Programmheft wird nicht mitgeteilt, welche Musik im Verlauf des ganzen Abends vertanzt wird) begegnen sich Tänzerinnen und Tänzer im Raum, begrüßen sich, nehmen Kontakt auf und vertreiben sich die Zeit. Im Film Bilder der Stadt Leipzig - im Raum ist Breakdance angesagt.

Im Film ein balzender Vogel Strauß - im Raum verliebte Paare, die sich suchen und zum Teil auch finden. Ein langsamer Tanz, alle eng umschlungen auf der Bühne und der Tanz wird zeitgleich auf die Leinwand übertragen. Muskelmasse im Film - zu harter Musik gibt es Streit und Schlägereien um Mädchen und Freunde. Puppenhafte Bewegungen auf der Bühne, Bewegungen und Gesten wurden als Schattenspiel auf die Leinwand übertragen.

Zu den Filmsequenzen agierte das Leipziger Ballett ausdrucksstark und phantasievoll mit einer großen Vielfalt und Intensität an Bewegungen. Von Beginn an läuft Mario Schröder mit einem Kameramann durch das UT Connewitz und lässt filmen und am Ende weiß man auch warum: Tänzerinnen und Tänzer sitzen in ihrer schwarz-weißen Kleidung auf der Bühne und sehen einen Schwarz-Weiß-Film über sich selbst, noch einmal getanzte Liebesszenen, Angst, Frust, Aggression, Spaß und verspielte Details auf Zelluloid gebannt und festgehalten für mehr als nur einen flüchtigen Moment, wobei man nicht erfährt, ob die gezeigten Ausschnitte bewusst oder per Zufall ausgewählt wurden.

Der Film ist aus, die Lichter gehen an, lang anhaltender Applaus für alle Beteiligten als Dank für einen interessanten Abend, der Neugierde geweckt hat auf weitere spannende Momente im Rahmen der Reihe "Tanz in den Häusern der Stadt".
Angela Trautmann für radio-mensch

euro-scene: Herbstzeitlose

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Tanztheater des Theaters Bielefeld - Konzeption und Choreographie: Rainer Behr. Der Titel des Tanzstückes ist auch das Motto der diesjährigen euro-scene, die Herbstzeitlose, ein Krokus, der im Spätherbst, wenn alle anderen Blumen verblüht sind, aus der Erde hervorkommt und dessen Blätter sich erst im Frühjahr entwickeln. Auf der Bühne eine Müllhalde mit vielen Steinen und altem Zeug, junge Menschen in zeitgemäßer Kleidung beschreiben oder verändern einzeln, paarweise oder in Gruppen ihre Lage. Neun Tänzerinnen und Tänzer zeigen Episoden ihres Daseins, ihre Persönlichkeit, die Übergänge sind abrupt und nur über die mal weiche, mal harte Musik verständlich.

Gegensätze liegen dicht beieinander: Aufheben/Wegwerfen,
Liebe/Hass, Depression/Aggression, Festhalten/Loslassen, Leben/Tod, Stärke/Schwäche, Stillstand/Bewegung u.s.w. - es geht die Wände hoch, eine Karre voll Sand wird monoton auf die Halde geschippt, ein Partner per Besen über die Bühne gerollt und entsorgt.

Die Gruppe läuft endlos auf einem imaginären Fließband, feste und selbstgewählte Hindernisse müssen überwunden werden. Alle wollen vorgegebene Normen nicht akzeptieren, hinterfragen sie, versuchen auszubrechen und stoßen dabei an ihre Grenzen. Es wird keine Geschichte erzählt und das macht es teilweise schwierig, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen, eben jenen Krokus, der mit Verspätung hervorkommt und blüht, auch zu entdecken in der Vielfalt des Alltags.
Angela Trautmann für radio-mensch

euro-scene: En Atendant im ausverkauften Schauspielhaus Leipzig

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Das Tanzstück "En Atendant" der Choreographin Anne Teresa Keersmaker wurde von der Compagnie ROSAS aus Brüssel aufgeführt. Am Anfang tritt ein Musiker an den Bühnenrand und spielt Querflöte, endlos lange lang anhaltende Töne, ein Tanzsolo löst ihn ab, die Tänzerin sucht irgendjemand oder irgendetwas und begegnet drei Musikern (Blockflöte, Fiedel und Gesang). Über den ganzen Abend wechseln Tanzszenen mit und ohne musikalische Begleitung ab, die Musik kommt aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert und wird dem Musikstil Ars subtilor zugeordnet. Die Kulisse ist schwarz, die Bühne bleibt dunkel bis auf einen Lichtstreifen auf der Vorbühne, die acht Tänzerinnen und Tänzer tragen
überwiegend schwarze Kleidung, man konzentriert sich auf die Bewegungen, das Geschehen auf der Bühne.

Die Gruppe formiert sich immer wieder zu einer Reihe, die Ausgangspunkt für gemeinsames Agieren oder Einzelaktionen ist, man hält sich fest, löst sich voneinander, liebt sich, streitet, versteckt sich, zeigt sich, ist selbstbewusst, verunsichert oder alle finden zusammen aus dem Chaos zu einem großen Haufen, liegen aufeinandergestapelt und lösen sich voneinander mit harmonischen und fließenden Bewegungen.

Anhaltender Applaus im Schauspielhaus am Ende des Abends, der auch gleichzeitig der letzte Beitrag im Rahmen der euro-scene 2012 war, deren Fortsetzung im nächsten Jahr auf neue und streitbare Inszenierungen hoffen lässt, vielleicht waren ja die normalen Straßenturnschuhe der Tänzer der Compagnie ROSAS ein Zeichen, den Weg unserer Zeit mutig und unaufhaltsam weiter zu gehen.
Angela Trautmann für radio-mensch
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