Auf meiner persönlichen Hitliste erscheint das viel zu früh gestorbene Wunderkind Georg Büchner gleich zweimal. Sein "Lenz" als beste Novelle und "Dantons Tod" als bestes Drama der deutschen Literatur. Georg Büchner schreibt "Dantons Tod" 1835, mit 21 Jahren, in nur einem Monat!
Siebenundsechzig Jahre nach seiner Entstehung kam das als unspielbar geltende Stück in Berlin zur Uraufführung. Am 27.Juni 2014 feierte es auf dem Universitätsplatz in Halle als Koproduktion von Neuem Theater und Thalia Theater seine Premiere. In die Jahre gekommenen Hobby- Revolutionären vom Leipziger Ring ("Wir sind das Volk!") kann es schon mal die Sprache verschlagen, wie konzentriert der
junge Büchner in diesem Drama über die Weltrevolution, über persönliche Schuld und persönliches Scheitern meditiert. "Das Volk ist ein Minotaurus, der wöchentlich seine Leichen haben muss, wenn er sie nicht auffressen soll", heißt es. Oder: "Die Waffe der Republik ist der Schrecken".
Doch auch ein Beckett-Vorläufer spricht zu uns. Das endgültige Abschiednehmen von diesem Planeten wird im Stück verhandelt; mal leise, mal laut und schrill- immer poetisch. "Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen." Das stimmt auch für Wladimir, Estragon, Pozzo und Lucky.
In der sehenswerten Inszenierung des neuen theaters Halle nimmt die Regie (Jörg Steinberg) den Text sehr ernst, neigt allerdings (zu häufig) zum Open Air- SPEKTAKEL: Explosion hier, Explosion da.... Brennende Benzinfässer, Kampfszenen... PENG- ein Schuss... Geerdet wird die MATERIAL- Schlacht durch die Musik von Falkenberg. Diese ist eher kraftmeierischer Natur und nur in wenigen Passagen wirklich subtil gearbeitet. Doch sie entfaltet einen Sog - und gefällt! Falkenbergs Sounddesign ist die Überraschung des Abends: die unendlichen Wiederholungen halten die Inszenierung zusammen und treiben sie gnadenlos voran. Dass Natalja Joselewitsch (Lucile) mit Leidensmiene zum Playback Violine spielen muss- geschenkt...
Die Bühnengestaltung (Heike Neugebauer) gerät martialisch. Die Guillotine ist das überdeutliche Zentrum dieser Inszenierung. Schon vor Beginn des Stückes wird klar: hier werden garantiert keine Gefangenen gemacht.
"Volkes Stimme" bestätigt dies: am Anfang des Abends hält sie einen Monolog in Richtung des Mordwerkzeugs; mit dem Rücken zum Publikum. - Eine schöne Idee!
Von diesem Zeitpunkt an sitzt man gebannt auf den Treppenstufen des Universitätsplatzes. Zum dramaturgischen Höhepunkt gerät die Einbeziehung der Zuschauer ins Spiel. Erst Danton, später "Volkes Stimme": sie fordern dazu auf, Positionen zu vertreten, Stellung zu beziehen. Wie diese Forderungen (nicht) eingelöst werden, ist spannend. So politisch kann Theater sein?
Die Stars des Abends sind neben dem souverän agierenden Alexander Gamnitzer (Danton) die Energiebündel Katharina Brankatsch (Volkes Stimme), David Kramer (St. Just) und Manuel Zschunke (Barere). Wenn Zschunke mit dem Knüppel aufs Benzinfass eindrischt, wird Büchners Leiden an der Welt ins 21. Jahrhundert transformiert.
Auf der Autobahn geht es von Halle zurück nach Leipzig. HOWLER aus Minneapolis knallt aus den Boxen. "I wanna die young as a star", singt Jordan Gatesmith. Das Album ist von 2012, da war er gerade mal 21 Jahre alt. "Die Nacht schnarcht über der Erde" lautet mein Lieblingssatz aus "Dantons Tod".
Holger Legler für radio-mensch