Das Deutsche Theater Berlin startete mit zwei Premieren in die Spielzeit 2011/2012, anderthalb davon habe ich gesehen. Da gab es zunächst Elfriede Jelineks Winterreise, bei der Kritikerumfrage von "Theater heute" zum deutschsprachigen Stück des Jahres gewählt. Ich frage mich nur, was an diesem Text ein Theaterstück war. Es ist ja legitim, wenn eine Schriftstellerin über ihr Leben und das Leben an sich reflektiert. Aber deshalb ist dieser sich gelegentlich philosophisch gebende, dann wieder einfach nur narzistische Seelenstriptease doch noch lange kein Bühnenstück. Auch nicht, wenn man es ins Scheinwerferlicht zerrt. Nächstens wird uns vielleicht noch ein literarisch begabter Koch seine
Seelenqual beim Aufschlagen eines Hühnereis zwecks Spiegeleier Bratens, weil er immer daran denken muss, dass das eigentlich ein Küken ist, als Theatertext verkaufen. Und wenn Andreas Kriegenburg sich der Sache annimmt wie bei der "Winterreise", dann geschieht sogar szenisch etwas und man kann den Gedanken mühelos folgen. Wenn man Lust hat. Mich haben die aneinandergereihten Monologe der 5 Wanderinnen (Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesic und Susanne Wolf) auf der Blumenwiese von Nikolaus Frinke sehr schnell gelangweilt. Das lag nicht an den Schauspielerinnen, die waren exzellent.
Sie haben die Texte spannend, sinnfällig und mit Humor verkauft unter dem Motto: "Mal sehen, was man da noch an Vergnügen rausholen kann." Leider mussten die Darstellerinnen, die gerade nicht dran waren, parallel irgendwelche Handlungen ausführen. Ach ja, im Theater soll ja auch was geschehen. Vielleicht bekommt man ja den Zuschauer sogar dazu, nach der versteckten Bedeutung zu rätseln. Und es soll keiner sagen, dass Werk sei nicht aktuell. Natascha Kampusch und ihr Medienecho werden sogar ein bisschen szenisch reflektiert. Ich gestehe, dass ich mir den zweiten Teil geschenkt habe, vielleicht war er ja besser. Aber die erste Hälfte hatte mich einfach zu müde gemacht.
Die zweite Premiere war in den Kammerspielen "Capitalista, Baby" nach "The Fountinhead" von Ayn Rand in einer Fassung von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, die beide auch Regie führten. Und hier hat mich der ebenfalls nicht gerade kurze Abend bestens unterhalten, auch im Sinne von angeregt. Es war politisches Theater (fast) ohne Zeigefinger mit komödiantischem Vergnügen. Die Amerikanerin Ayn Rand, die 1905-1982 gelebt hat, ist in ihrem Land eine Bestsellerautoren und gilt als Verfechterin des reinen Kapitalismus. Das ist wahrscheinlich der Ausgangspunkt für den etwas irreführenden Titel. Geht es doch in ihrem Roman "The Fountainhead" um die bedingungslose Selbstverwirklichung des Individuums im Gegensatz zu denen, die sich vom System korrumpieren lassen, aber auch denen, die den Sozialstaat propagieren. Howard Roark, ein eigenwilliger Architekt arbeitet lieber im Steinbruch, als seine Ideale zu verraten. Ganz im Gegensatz zu seinem Kommilitonen Peter Keating, einer mittelmäßigen Begabung, der bei Howard schmarotzt und schnell Karriere macht. Als er sich nicht an die Verabredung hält, die Pläne Howards für eine Anlage des sozialen Wohnungsbaus ohne jegliche Änderung zu verwirklichen, sprengt dieser das Gebäude in die Luft.
Das klingt alles sehr trocken, wird aber in eine teilweise triviale Story Marke Hollywood verpackt (der Stoff wurde tatsächlich auch verfilmt), die hier jedoch nicht melodramatisch, sondern mit Ironie erzählt wird. Manchmal erinnern die Szenen an frühen Kintopp. Das gibt den Schauspielern Gelegenheit, ihre Figuren komödiantisch auszukosten und vorzuführen. Und diese Gelegenheit nutzen sie zum Vergnügen des Publikums weidlich aus. Allen voran Natali Seelig als mal frigide, mal leidenschaftliche Dominique. Felix Goeser spielt als Peter die Durchschnittlichkeit seiner Figur mit einer gewissen Fahrigkeit gestenreich und sehr komisch aus. Matthias Neukirch als Ellsworth ist in seiner Demagogie ohne Aufwand ein brillanter Rhetoriker, der die Leute verführen kann. Michael Schweighöfer verschafft mit trockenem Humor dem sich wandelnden Meinungsmacher viele Sympathien. Daniel Hoevels als Howard wirkt eher bescheiden in seiner Unbedingtheit. Da dürfte Cary Grant, der die Rolle im Film gespielt hat, viel strahlender gewesen sein. Aber es ist ein Reiz dieser Inszenierung, dass da eben kein solcher Held unbeirrt seinen Weg geht, sondern einfach nur jemand, der sich treu bleiben will. Damit weckt er Sympathien und nimmt das Publikum mit. Das gipfelt in einer engagierten Rede vor Gericht, in der er bedingungsloses Schöpfertum gegen Mittelmäßigkeit und Altruismus stellt. Seine Thesen haben einerseits Überzeugungskraft, sind andererseits fragwürdig. Aber die Inszenierung stellt es dem Zuschauer frei, seine Wertung zu treffen. Danke an die Macher, dass sie einem mündigen Publikum keine Wertungen oktroyieren. Die gelegentlichen Spielereien mit der Stimmverzerrung haben mich allerdings eher gestört als beeindruckt. Das eingeschobene Brecht-Gedicht übrigens auch. Ach ja - und dann ist da noch Jürgen Kuttner in verschiedenen Rollen. Ich habe ja tiefes Verständnis dafür, dass ein Regisseur mitspielen möchte. Das war auch alles sehr klar und ordentlich, aber konnte mit dem darstellerischen Niveau des Ensembles doch nicht ganz mithalten. Jo Schramm baut ein riesiges Dollarzeichen auf die Bühne, in dem sich geschickt verschiedene Schauplätze verbergen. Das ist nicht nur verspielt und lustig, es bietet auch die Möglichkeit für spannende Arrangements. Die Ausstattung hat einen Sonderapplaus verdient. Ich denke, Stück und Inszenierung werden im guten Sinne polarisieren, seinen Spaß dürfte aber jeder haben.
Rainer Gerlach für radio-mensch